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zu Politik und Recht
Eugen David
Am 13. Juni 2025 publiziert der Bundesrat ein geändertes Personenfreizügigkeitsabkommen (PFZA) und dazu ein neues Institutionelles Protokoll. Beides hat er in den letzten drei Jahren mit der EU ausgehandelt.
Das geänderte Personenfreizügigkeitsabkommen samt Protokoll ist Teil eines umfangreichen bilateralen Pakets mit 20 Abkommen, Protokollen, Erklärungen, Beschlüssen, Erläuterungen etc.
Das Paket geht weit über das Institutionellen Rahmenabkommen hinaus, welches der Bundesrat nach siebenjährigen Verhandlungen mit der EU am 26. Mai 2021 abgelehnt hat. Das Institutionelle Rahmenabkommen von 2018 umfasste 35 Seiten, das jetzt vorliegende bilaterale Paket umfasst über 1000 Seiten Text, ist hoch komplex und über weite Strecken redundant.
Anders als 2021 hat der Bundesrat am 13. Juni 2025 der Paraphierung des bilateralen Pakets zugestimmt und beschlossen, für die Umsetzung dem Parlament Beschlüsse vorzulegen.
Ausserdem hat er entschieden, dass Paket nicht dem obligatorischen Referendum zu unterstellen.
Der Bundesrat will mit dem geänderten Personenfreizügigkeitsabkommen prioritär den sog. Lohnschutz absichern.
Der Bundesrat hat für die Schweiz neu das Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“ vereinbart.
Dieses Prinzip soll mit dem geänderten Abkommen Teil des schweizer Rechts werden.
Ob der Bundesrat das neue Prinzip nicht nur für EU-Handwerksbetriebe, die in der Schweiz einen Auftrag ausführen wollen, sondern auch für einheimische Privatunternehmen durchsetzen will, ist unklar.
Aufgrund des Abkommens könnte die EU entsprechende Forderungen stellen, um eine Diskriminierung der EU-Betriebe zu vermeiden.
Die Schweiz kennt bisher national keinen gesetzlichen Mindestlohn, geschweige denn allgemeine gesetzliche Lohnanordnungen für die Privatwirtschaft im Sinne von „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“.
Die privatwirtschaftlichen Gesamtarbeitsverträge nach OR (GAV) regeln Mindestlöhne mit Geltung für die Vertragspartner. Sie enthalten jedoch keine generellen Vorschriften über die Lohnhöhe für gleiche Arbeit am gleichen Ort.
Von den ca. 5 Mio. Erwerbstätigen unterstehen nur ca. 1.7 Mio. einem GAV mit Mindestlohnregeln.
Wollte der Bundesrat das neu vereinbarte Prinzip für die gesamte Wirtschaft per Gesetz und mit entsprechender Kontrollbürokratie umsetzen, würde er die marktwirtschaftlich und wettbewerblich organisierte schweizer Wirtschaftsordnung in Frage stellen.
Das duale Vollzugssystem gewährleistet laut Bundesrat das Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“. Es garantiere dichte Lohnkontrollen bei den in der Schweiz während maximal 90 Tagen pro Jahr tätigen EU-Handwerksbetrieben.
Im Zuge der Umsetzung der Bilateralen II hat der Bund 2006 Gewerkschaften und Gewerbeverbände, zusammen mit kantonalen Beamten, als Kontrollorgane für die Überwachung der in der Schweiz tätigen EU-Handwerksbetriebe eingesetzt (306b OR, 7 EntsG).
Diese Kontrollorganisation mit privaten Interessenorganisationen für EU-Betriebe bezeichnet der Bundesrat als duales Vollzugssystem. Der Begriff wird jetzt auch in den Abkommen verwendet.
Da die EU-Betriebe nicht Vertragsparteien der privaten schweizer GAV sind, hat die Kontrollbefugnis von Gewerkschaften und Gewerbeverbände keine Rechtsgrundlage in den GAV. Das duale Vollzugssystem wird staatlich angeordnet und kann nicht mit dem privatrechtlichen GAV gleichgesetzt werden.
Gewerkschaften und Gewerbeverbände führten bisher pro Jahr mit kantonalen Beamten rund 30‘000 Kontrollen durch. Das entspricht einer über zehn Mal höheren Kontrolldichte als in Deutschland.
Die beiden Privatorganisationen werden dafür aus Steuermitteln mit je über 10 Mio. CHF p.a. entschädigt.
Die vertragliche Absicherung der finanziell ergiebigen Kontrolltätigkeit der Verbandssekretäre war die wichtigste Forderung der Gewerkschaften im Rahmen der Verhandlungen der Bilateralen III.
Der Bundesrat behandelte in den Verhandlungen die Forderung der Gewerkschaften als Priorität. Der Abschluss der Abkommen wurde dadurch um gut zwei Jahre verzögert.
Bereits das Institutionelle Rahmenabkommen hatte der Bundesrat im Mai 2021 zur Hauptsache wegen der Forderungen der Gewerkschaften scheitern lassen.
Dem PFZ-Abkommen angehängt ist eine Gemeinsame Erklärung, wonach Überwachungs- und Vollzugsorganen auch Sozialpartner miteinschliessen können.
Im Institutionellen Protokoll PFZA (5/10) erklärt die EU, sie beachte das duale Vollzugssystem der Schweiz.
Der Bundesrat erklärt seinerseits, schweizer Kontrollen sollen verhältnismässig und nicht-diskriminierend durchgeführt werden. Nur Missbrauch der Personenfreizügigkeit und Umgehung der Lohnvorschriften sollen verhindert werden.
Aus Sicht des Bundesrats sind die Interessen der Gewerkschaften und der Gewerbeverbände am dualen Vollzugssystem mit dem geänderten Personenfreizügkeitsabkommen abgesichert.
Abschreckung der preisgünstigeren EU-Konkurrenzbetriebe durch kostentreibende bürokratische Auflagen, übersetzte Kontrolldichte und Blockade im Gemischten Ausschuss, was ursprünglich politisch bezweckt war, wäre, weil unverhältnismässig und diskriminierend, nicht mehr zulässig.
Erhebliche bürokratische Hürden für EU-Konkurrenzbetriebe bleiben.
Die Mitwirkung privater Interessenorganisationen im Kontrollorgan der Personenfreizügigkeit ist mit rechtlichen Risiken verbunden.
Nach schweizer und europäischem Recht verletzt die Einsetzung von Gewerkschaften und Gewerbeverbänden als staatliche Kontrollorgane das Rechtsstaatsprinzip, wonach für die Kontrolle der Einhaltung staatlicher Gesetze unparteiische Behörden einzusetzen sind.
Gewerkschaften und Gewerbeverbände sind nicht unparteiisch. Sie sind Interessenvertreter der schweizer Betriebe und ihrer Mitarbeiter.
Sie sind nach ihrem Selbstverständnis daran interessiert, EU-Konkurrenz vom schweizer Markt fern zu halten.
Aufgrund ihrer internen arbeitsvertraglichen Pflicht, für die Interessen ihrer Mitglieder einzustehen, sind die als Kontrollorgane tätigen Verbandssekretäre voreingenommen.
Nach EuGH-Rechtsprechung dürfen staatsvertragliche Vereinbarungen der EU-Organe das übergeordnete Rechtsstaatsprinzip des europäischen Primärrechts (Gründungsvertrag in der Fassung des Vertrags von Lissabon 2007) nicht verletzen.
Die fehlende Unparteilichkeit der schweizer Konkurrenten der EU-Betriebe im staatlichen Kontrollorgan für die EU-Betriebe verletzt das Rechtsstaatsprinzip. Die Einsetzung von Vertretern der Konkurrenz als staatliche Kontrolleure ist unhaltbar und untergräbt den fairen Wettbewerb.
Neu soll für EU-Handwerksbetriebe eine reduzierte Voranmeldefrist von vier Tagen gelten.
Derzeit gilt - seit 2006 - eine Voranmeldefrist von acht Tagen. Die EU betrachtet die bisherige Regulierung seit dem Start der Bilateralen II als Verletzung des vereinbarten Diskriminierungsverbots (2 PFZA).Nur EU-Handwerks-Betriebe, nicht aber schweizer Handwerks-Betriebe müssen sich vor Ausführung von Arbeiten bei einer kantonalen Behörde melden, damit die Löhne von Gewerkschaften und Gewerbeverbänden auf Einhaltung der Mindestlohnvorschriften kontrolliert werden können.
Schweizer Betriebe ausserhalb eines GAV unterstehen weder privatrechtlich vereinbarten, noch öffentlich-rechtlich verfügten Lohnkontrollen.
Schweizer Betriebe beschäftigen wegen der tieferen Lohnansprüche überwiegend ausländische Mitarbeiter, sei es aus der EU, sei es aus Drittländern.
Eine unterschiedliche Behandlung inländischer und ausländischer Betriebe bezüglich der Meldepflicht für Lohnkontrollen vor Arbeitsausführung lässt sich unter dem Blickwinkel des Arbeitnehmerschutzes kaum rechtfertigen.
Im Gemischten Ausschuss CH-EU lehnte es der Bundesrat in Selbstüberschätzung während 15 Jahren ab, auf die Beanstandungen der EU einzutreten. Erst deswegen verlangte alle die EU-Organe (Parlament, Rat, Kommission) von der Schweiz institutionelle Regeln, um das Diskriminierungsverbot des Abkommens durchzusetzen.
In einem ersten Durchgang lehnte der Bundesrat am 26. Mai 2021 das EU- Begehren nach institutionellen Regeln auf Druck von SVP und Gewerkschaften ab. Die bundesrätliche SVP/FDP-Koalition verweigerte die Paraphierung des Ende 2018 mit der EU fertig ausgehandelten Institutionellen Rahmenabkommens.
Jetzt, im Juni 2025, akzeptiert der Bundesrat die Verkürzung der Voranmeldefrist und institutionelle Vorgaben zur Durchsetzung des Diskriminierungsverbots. Die EU ihrerseits betrachtet nach Verkürzung der Meldefrist die Meldepflicht der EU-Betriebe nicht mehr als diskriminierend.
Mit einer früheren Verständigung im Gemischten Ausschuss hätte der Bundesrat die Forderung der EU nach institutionellen Regeln vermutlich vermeiden können.
In privaten Gesamtarbeitsverträgen haben Gewerkschaften und Gewerbeverbände in den Baunebengewerbe-Branchen, unterschiedlich nach Kantonen, Kautionspflichten der Betriebe zur Deckung von Vollzugskosten und Konventionalstrafen vereinbart.
Der Bund hat per Entsendegesetz ab 2006 die Kautionsflicht auf EU-Betriebe, die nicht am Gesamtarbeitsvertrag beteiligt sind, ausgedehnt.
Bisher hatten danach die EU-Betriebe die Kaution generell vor der ersten Arbeitsaufnahme zu leisten. Die EU betrachtet dies als Verletzung des Diskriminierungsverbots.Im ausgehandelten Abkommen hat der Bundesrat einer Beschränkung der Kautionspflicht auf jene Betriebe zugestimmt, welche bei einer früheren Arbeit in der Schweiz ihre Pflichten nach Entsendegesetz verletzt haben.
Auch diesen Schritt hätte der Bundesrat während der letzten 15 Jahre im Gemischten Ausschuss tun können, um Weiterungen im institutionellen Bereich zu vermeiden.
Selbständige Dienstleister aus der EU, die in der Schweiz tätig sein wollen, müssen den Kontrollorganen vor Ort ihre Selbstständigkeit mit der Registrierung als selbstständig erwerbende Person bei den Sozialversicherungsbehörden im EU-Herkunftsstaats und mit dem Auftrag des schweizer Auftraggebers nachweisen.
Damit will der Bundesrat die sog. Scheinselbständigkeit bekämpfen. Er hat deswegen dem Abkommen eine Einseitige Erklärung beigefügt, wonach die Schweiz Massnahmen ergreifen werde um eine Umgehung der Lohnkontrollen zu verhindern.
Die rechtliche Bedeutung der Einseitigen Erklärung ist offen.
Jedenfalls dürfen nach Entsendegesetz verlangten bürokratischen Dokumentationspflichten nicht gegen das vereinbarte Diskriminierungsverbot verstossen.
Ob dies der Fall ist, ist zweifelhaft, weil schweizer Dienstleister ihre Selbständigkeit nicht nachweisen müssen und keinen Lohnkontrollen unterstehen.
Besonders wichtig ist dem Bundesrat die vereinbarte sog. Non-Regressionsklausel (5j). Er meint, die Schweiz habe damit im sog. Lohnschutz faktisch ein Opting-out-Recht.
Die Schweiz muss laut vereinbarter Regressionsklausel neues EU-Recht dann nicht übernehmen, wenn durch dieses Recht das Schutzniveau für die entsandten EU-Arbeitnehmenden in Bezug auf die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen bedeutend geschwächt würde.
Faktisch dürfte es darum gehen, ob neue EU-Regeln, die EU-Handwerks-Betrieben den Marktzutritt durch Abbau bürokratischer Hürden erleichtern wollen, das Mindestlohnniveau für deren Mitarbeiter bedeutend schwächen würden.
Unwahrscheinlich ist, dass die gesetzgebenden EU-Organe (europäisches Parlament und europäischer Rat) durch europäische Gesetze den Arbeitnehmerschutz und Mindestlöhne in den EU-Mitgliedstaaten bedeutend schwächen wollen.
Das vom Bundesrat erwähnte Opting-out kommt in der Realität vermutlich nie zum Tragen.
Nicht ausgeschlossen ist, dass die EU von der Schweiz die Durchsetzung des vereinbarten Arbeitsmarkt-Prinzips „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“ auch für schweizer Betriebe verlangt. Gegen einen solchen, wirtschaftspolitisch unerfreulichen Schritt gäbe es dann kein Opting-out.
Das Protokoll hat dieselbe völkerrechtliche Verbindlichkeit wie das Abkommen.
FDP-BR Cassis hat nach Abbruch der Verhandlung im Mai 2021 erklärt, ein zweites Institutionelles Abkommen werde es nicht geben.
Nun hat der Bundesrat stattdessen für jedes Binnenmarktabkommen ein gleichlautendes Institutionelles Protokolle vereinbart. Bezüglich Verbindlichkeit unterscheiden sich diese Protokolle nicht vom früheren Institutionellen Rahmenabkommen.
Inhaltlich sind die Regeln wesentlich umfangreicher und detaillierter. Relevante materielle Abweichungen gegenüber dem früheren Rahmenabkommen gibt es nicht.
Das Institutionelle Protokoll hält fest, dass dieselben institutionellen Regeln in allen bisherigen und künftigen bilateralen Binnenmarkt-Abkommen gelten.
Weshalb der Bundesrat dennoch verlangt, für jedes Abkommen die institutionellen Regeln zu wiederholen, bleibt ohne Erklärung.
Umfang und Komplexität der Bilateralen III werden dadurch ohne erkennbaren Nutzen deutlich erhöht. Materiell ist die Vervielfältigung derselben Regeln irrelevant.Bearbeitet die EU-Kommission neue europäische Gesetze, welche die Schweiz laut Abkommen übernehmen muss, informiert sie den Bundesrat im Gemischten Ausschuss. Dort kann darüber – ohne Verbindlichkeit – diskutiert werden.
Die EU-Kommission kann – ohne Mitsprache oder Mitwirkung des Bundesrats oder des schweizer Parlaments - Experten ihrer Wahl aus der Schweiz beiziehen, so wie sie Experten aus den Mitgliedländer beiziehen kann.
In den europäischen gesetzgebenden Organen (EU-Parlament, EU-Rat) hat die Schweiz weder ein Mitsprache- noch ein Mitwirkungsrecht betreffen die europäischen Gesetze, welche die Schweiz laufend übernehmen und anwenden muss.
Die EU-Kommission ist aber bereit, den Bundesrat im Gemischten Ausschuss anzuhören. Geht es um Exekutiv-Verordnungen der EU-Kommission gewährt sie laut Institutionellem Protokoll dem Bundesrat „die grösstmögliche Teilnahme an der Ausarbeitung ihrer Vorschläge“.
Was „Gewährung der grösstmögliche Teilnahme“ bedeutet, bleibt ohne Erklärung. Jedenfalls handelt es sich um eine einseitige Ermessens-Anordnung der EU-Exekutive. Der Bundesrat ist Bittsteller ohne Rechtsanspruch. Jede demokratisch legitimierte Mitsprache fehlt.
Der zentrale Artikel 5 des Institutionellen Protokolls regelt die Integration des europäischen Rechts ins schweizer Recht.
Die Schweiz verpflichtet sich, die in den Bereich des Abkommens fallenden EU-Gesetze und Verordnungen der EU-Kommission nach ihrem Erlass so rasch wie möglich in das schweizer Recht zu übernehmen. Die EU ihrerseits übernimmt kein schweizer Recht.
Der Gemischte Ausschuss hat die Aufgabe, die Übernahme von EU-Recht durch die Schweiz „so rasch wie möglich“ durch eine Anpassung der Anhänge I bis III des Abkommens zu gewährleisten.
Im Regelfall sind die gesetzgebenden Organe der Schweiz an der Rechtsübernahme nicht beteiligt. Alles spielt sich im Gemischten Ausschuss ab, der unter Ausschluss der Öffentlichkeit tagt.
Die Beschlüsse des Gemischten Ausschusses treten sofort in Kraft.
Aufgrund des Institutionellen Protokolls wird der aus Beamten der EU und der Schweiz paritätisch zusammengesetzte Gemischte Ausschuss zu einem gesetzgebenden Organ für die Schweiz.
Der Bundesrat unterstreicht, die Pflicht zur Übernahme von künftigem EU-Recht gelte nicht für die Vereinbarungen über
Bei diesen Regelungen geht es primär um die Absicherung der Lohnkontrollen bei EU-Betrieben durch die Gewerkschaften und Gewerbeverbände.
Weshalb der Bundesrat diesen Gruppeninteressen ein derart hohes Gewicht einräumt, im Übrigen aber die Rechtsübernahme ohne Mitsprache und ohne Mitwirkung der Schweiz demokratie- und souveränitätspolitisch für unproblematisch hält, bleibt im Dunkeln.
Die SVP/FDP-Koalition des Bundesrats lehnt jede Beteiligung der Schweiz an den europäischen gesetzgebenden Organen strikt ab, übernimmt aber mit dem Abkommen laufend deren Gesetze im Gemischten Ausschuss, in der Regel ohne jede Beteiligung des schweizer Gesetzgebers.
Laut FDP-BR Cassis wird die Unabhängigkeit der Schweiz durch die Institutionellen Protokolle gestärkt, was schwer nachvollziehbar ist.
Laut ausgehandelter Vereinbarung bilden die bestehenden und künftigen bilateralen Binnenmarkt-Abkommen zwischen der EU und der Schweiz ein kohärentes Ganzes.
Der Bundesrat gibt damit seine bisherige Auffassung auf, jedes Abkommen sei selektiv eigenständig zu behandeln und zu beurteilen.
Formell hätten daher die Texte in einem einzigen Abkommen präsentiert werden können.
Laut institutionellem Protokoll sind die bilateralen Abkommen einheitlich auszulegen und anzuwenden.
Massgebend für die Auslegung aller Begriffe des europäischen Rechts, die bei der Anwendung der bilateralen Abkommen vorkommen, ist die bisherige und künftige Rechtsprechung des EuGH.
Eine abweichende schweizer Auslegung von Begriffen, die auch im europäischen Recht vorkommen, ist irrelevant.
Die EU-Kommission überwacht die Anwendung des Abkommens durch die Schweiz. Der Bundesrat überwacht die Anwendung des Abkommens durch die EU. Im Gemischten Ausschuss sorgen die Vertragsparteien gemeinsam für die Überwachung des Abkommens.
Der Bundesrat hat die Schweiz mit dem Abkommen verpflichtet, alle erforderlichen Massnahmen zu treffen, um das angestrebte Ergebnis des europäischen Rechts in der Schweiz sicherzustellen und alles zu unterlassen, was die Verwirklichung der Ziele des europäischen Rechts in der Schweiz gefährden könnte.
Ergeben sich Differenzen bei der Auslegung und Anwendung des Abkommens oder des anwendbaren europäischen Rechts soll der Gemischte Ausschuss eine Lösung suchen.
Kann die Differenz im Gemischten Ausschuss nicht innert drei Monaten bereinigt werden, kann jede Partei selbständig das installierte Schiedsgericht anrufen.
Die Anrufung anderer Instanzen ist ausdrücklich ausgeschlossen.
Geht es um die Anwendung oder Auslegung eines Begriffs des europäischen Rechts hat das Schiedsgericht beim EuGH einen verbindlichen Vorabentscheid einzuholen. Vom Entscheid des EuGH kann das Schiedsgericht nicht abweichen.
Das gilt auch in den wenigen Fällen, wo die Schweiz ausnahmsweise nicht verpflichtet ist, neues europäisches Recht zu übernehmen.
Das Diskriminierungsverbot ist Teil des europäischen Rechts. Immer wenn es darum geht, ob eine konkrete Massnahme des schweizer Entsendegesetzes das Diskriminierungsverbot verletzt, entscheidet der EuGH über die Tragweite des Diskriminierungsverbots im konkreten Fall.
Nur wenn keine Anwendung oder Auslegung eines Begriffs des europäischen Rechts impliziert ist, kann das Schiedsgericht auf den Vorabentscheid des EuGH verzichten.
Angesichts des Umfangs des mit den Abkommen übernommenen aktuellen und künftigen europäischen Rechts wird diese Rechtslage nur selten vorkommen.Der Bundesrat installiert mit dem Vertrag ein Schiedsgericht mit mehrheitlich ausländischen Richtern und ein kompliziertes Staatsgerichtsverfahren, ohne individuellen Rechtsschutz für Schweizer und Schweizerinnen auf europäischer Ebene.
Er lehnte es ab, das schweizer Bundesgericht zu verpflichten, den so oder so notwendigen Vorabentscheid des EuGH zum europäischen Recht einzuholen und so die Rechtsprechung schweizer Richtern in der Schweiz zu überlassen.
Er wollte damit ausschliessen, dass Schweizerinnen und Schweizer sowie schweizer Unternehmen, wenn sie vom europäischen Recht in der Schweiz betroffen sind, der europäische Rechtsweg geöffnet wird.
Schweizerinnen und Schweizer werden mit dem Entscheid des Bundesrates im europäischen Rechtsraum, dem die Schweiz aufgrund der Abkommen angehört, bezüglich des Rechtsschutzes schlechter gestellt als Angehörige eines EU-Mitgliedstaates.
Hintergrund des Entscheides der Regierung bildet die rechtsnationale Ideologie, wonach jeder formelle Einbezug europäischer Institutionen möglichst zu vermeiden ist.
Da das Schiedsgericht den Vorabentscheid des EuGH einholen muss, hat der Bundesrat dieses Ziel nicht erreicht und es bleibt nur bei der Schlechterstellung der Schweizerinnen und Schweizer im Bereich des Rechtsschutzes bei der Anwendung des vereinbarten europäischen Rechts in der Schweiz.
Wird gerichtlich eine Abkommensverletzung festgestellt, hat die verletzende Partei, d.h. die Schweiz oder die EU, dem Gemischten Ausschuss mitzuteilen, wie sie die Verletzung innert der vom Gericht gesetzten Frist zu beheben gedenkt.
Wird die Verletzung aus Sicht der anderen Vertragspartei nicht behoben, kann diese verhältnismässige Ausgleichsmassnahmen im gesamten Bereich der bilateralen Binnenmarkt-Verträge treffen.Beispielsweise kann die EU bei Verletzung der europäischen Regeln über die Personenfreizügigkeit Ausgleichsmassnahmen im Bereich des Landwirtschafts- oder des Luftverkehrsabkommen treffen.
Laut Artikel 13 des Institutionellen Protokolls ist die Schweiz verpflichtet, für den Zugang zu EU-Einrichtungen (EU-Agenturen, EU-Informationssysteme, etc.) finanzielle Beiträge an die EU zu leisten.
Zum einen wird jährlich ein operativer Beitrag an die Kosten der entsprechenden EU-Einrichtungen fällig. Er wird – wie bei einem EU-Mitgliedstaat - aufgrund des Bruttosozialprodukts der Schweiz im Verhältnis zum Bruttosozialprodukt der EU bemessen.
Zum zweiten ist eine jährliche Teilnahmegebühr von 4% des operativen Beitrags an die EU-Einrichtung zu bezahlen.
Diese finanziellen Beiträge laufen neben dem Kohäsionsbeitrag an EU-Mitgliedstaaten, der sich für die Jahre 2030 – 2036 laut Beitragsabkommen auf 350 Millionen Franken pro Jahr beläuft.
Prioritär hat sich der Bundesrat in den Verhandlungen mit EU mit der Umsetzung der Forderungen der Gewerkschaften befasst, insbesondere mit der Absicherung des dualen Vollzugssystems.
Die grundsätzlichen Fragen zur künftigen Position und Rolle der Schweiz als Enklave der EU bleiben unbeantwortet. Stabilisierung des bisherigen Bilateralismus sei das Oberziel, erklärt die Regierung.
Allerdings hat der Bundesrat mit den neuen Abkommen wesentliche bisherige Charakteristika des Bilateralismus aufgegeben:
Das geänderte Personenfreizügigkeitsabkommen samt Institutionellem Protokoll zeigen, dass der Bilateralismus, vor seinem Absterben in einem vermeintlich stabilisierten Endstadium angekommen ist. Das Endstadium ist von der laufenden Übernahme europäischen Rechts auf Anordnung der europäischen Organe geprägt.
Wie lange das Endstadium andauern wird, muss die Zukunft zeigen. Solange die Schweiz von einer SVP/FDP-Koalition regiert wird, wird sich nichts ändern.
Die Europagegegner, FDP-NR Fischer und SVP-NR Blocher, haben nach der von ihnen propagierten Ablehnung des EWR am 6. Dezember 1992 vom Bundesrat den Bilateralismus, d.h. selektive Übernahme europäischen Rechts ohne Mitsprache in den europäischen Organen, verlangt.
Ab dem Einzug der Bundesräte Merz (FDP), Blocher (SVP) und Calmy-Rey (SP) 2003 in die Regierung galt der Bilateralismus offiziell als Königsweg der Schweiz.
Die rechtsnational geprägten Koalitionsregierung SVP/FDP ab 2017/18 hat die Option EU-Beitritt definitiv ausgeschlossen.
Das geänderte Personenfreizügigkeitsabkommen und das neue Institutionelle Protokoll machen die Abhängigkeit der Schweiz von der EU deutlich.
Als Enklave der EU (und der NATO) ist die Abhängigkeit rechtlich, wirtschaftlich und sicherheitspolitisch weit fortgeschritten.
Faktisch wird die Schweiz mit den Verträgen Teil des multilateralen europäischen Rechtsraums.
Die Meinung des Bundesrates, es handle sich nur um eine selektive Beteiligung am europäischen Rechtsraum mag formal zutreffen. Sie hat indessen, auch im Blick auf die Zukunft, ein Ausmass erreicht, das es der Schweiz verunmöglicht, sich ohne existenzielle Gefährdung herauszulösen.
Diese Realität wird von der SVP/FDP-Regierungskoalition verdrängt.
Bezüglich Unabhängigkeit und Souveränität zählt für sie allein der formelle Anschein, nicht die materielle Substanz.
Gefangen in der rechtsnationalen SVP-Ideologie klammert sich die SVP/FDP-Regierungskoalition formell an den Bilateralismus, gibt ihn aber materiell auf.
Die Rechtsnationalen wollen zurück ins 19./20. Jahrhundert, mit Nationalstaaten in Europa, die sich gegenseitig den Krieg erklären können. Diese Ideologie verursachte im 20. Jahrhundert in Europa zwei Weltkriege mit Millionen Toten. Gegen diesen europäischen Nationalismus wurde nach dem 2. Weltkrieg die Europäischen Union gegründet.
Die Rechtsnationalen bleiben bei ihrem Nationalismus. Sie sind – im Widerspruch zur Realität - der Ansicht, die Schweiz sei in Europa ein souveräner und unabhängiger Nationalstaat. Die europäische Kooperation sei ein Übel für die völkische Identität.
Die AfD in Deutschland, das Rassemblement national in Frankreich, die FPÖ in Österreich und die SVP in der Schweiz haben dieselbe Ideologie und dasselbe Programm gegen Europa.
Der Bundesrat will in seiner Europapolitik der rechtsnationalen Ideologie Rechnung tragen. Ausschlaggebend ist nach seiner Meinung, dass die Schweiz im Bilateralismus formell nicht EU-Mitglied ist, auch wenn sie im Bilateralismus materiell in den europäischen Rechtsraum integriert ist.
Konsequenz dieser Politik ist es, dass die Schweiz im multilateralen Europa keine Mitspracherechte hat, aber die multilateralen europarechtlichen Pflichten übernehmen muss und bei allen multilateralen europäischen Einrichtungen und Kooperationen fremdbestimmter Bittsteller ist.
Das geänderte Personenfreizügigkeitsabkommen, samt Institutionellem Protokoll, belegen, dass die Schweiz im bundesrätlich «stabilisierten Bilateralismus» multilateral festgelegte Pflichten analog einem EU-Mitglied hat.
Die Pflichterfüllung, insbesondere die laufende Übernahme des europäischen Rechts und die Zahlung der Beiträge, wird von der multilateralen EU-Kommission überwacht. Der multilaterale EuGH definiert im Streitfall, was die schweizer Pflichten beinhalten, insbesondere welche europäischen Gesetze von der Schweiz zu übernehmen sind.
Das spielt für die SVP/FDP-Regierungskoalition alles keine Rolle.
Entscheidend ist die formelle, der rechtsnationalen Ideologie geschuldete, Fassade der Nicht-Mitgliedschaft, nicht die Substanz.Die Briten haben den schweizer Bilateralismus als Vasallenstatus bezeichnet, der für Grossbritannien nicht in Frage komme. Die Einschätzung ist zutreffend.
20.06.25
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