Ansichten
zu Politik und Recht

Eugen David

TA-Redaktor Rutishauser jammert
wegen FDP-Nein zum Ständemehr


TA-Redaktor Rutishauser jammert in einem Artikel des Tagesanzeigers vom 19. Oktober 2025 über den Beschluss der FDP-Delegierten vom 18.Oktober 2025, für die Bilateralen Verträge III keine obligatorische Volksabstimmung mit Ständemehr zu verlangen.

Die schweizer Anti-EU-Koalition innerhalb und ausserhalb von Bundesrat und Parlament setzt alle Hebel in Bewegung, um eine obligatorische Volksabstimmung mit Ständemehr zu erzwingen und damit die Bilateralen III in einem schwarzen Loch zu versenken.

Die EU-Gegner wissen, dass bei der bevorstehenden Abstimmung über die Bilateralen III nach den Umfragen mit einem Volksmehr, aber nicht mit einem Ständemehr gerechnet werden kann.

„Denn dass es gelingt, in einem Abstimmungskampf eine Mehrheit der Kantone dazu zu bringen, für das Vertragspaket zu stimmen, ist ziemlich unwahrscheinlich.“ meint TA-Redaktor Rutishauser in seinem Artikel.

Und kommentiert: "Dass man nun eine solche Weichenstellung versucht, ohne Ständemehr, ist aus staatspolitischen Gründen schlau, aber nicht gut."

Gegen das demokratische Volksmehr

Ziel der EU-Gegner ist es, im Falle eines Volksmehrs die Bilaterale III mit dem föderalistischen, aber undemokratischen Ständemehr zu beseitigen. In Kleinkantonen mit einer virulent rechtsnationalen SVP ist eine Ablehnung der Bilateralen III zu erwarten.

Beim Ständemehr zählen die Stimmen der Stimmberechtigten eines Kleinkantons – wie z.B. Appenzell Innerrhoden oder Nidwalden – ein Vielfaches der Stimmen der Stimmberechtigen eines Grosskantons – wie z.B. Zürich oder Waadt.

Im Interesse der politischen Verhältnisse in Kleinkantonen verletzt das Ständemehr beim Stimmrecht auf Bundesebene massiv die Rechtsgleichheit der Stimmberechtigten und das fundamentale demokratische Prinzip „One person, one vote“.

Das wollen sich die EU-Gegner zu Nutze machen.

FDP-BR Keller-Sutter will das Ständemehr

Zu den Verfechtern des Ständemehrs zählen im Bundesrat SVP-BR Parmelin, SVP-BR Rösti und FDP-BR Keller-Sutter.

Die Forderung von FDP-BR Keller-Sutter nach dem Ständemehr soll der FDP den Weg für eine Ablehnung der Bilateralen III ebnen, ohne die Ablehnung offen deklarieren zu müssen.

In der Europapolitik folgt FDP-BR Keller-Sutter der rechtsnationalen Ideologie der SVP.

Wie die SVP lehnt sie die europäische Integration grundsätzlich ab, insbesondere aber eine Beteiligung der Schweiz an den europäischen Institutionen.

Sie war mitverantwortlich für den Entscheid der Regierung vom 26. Mai 2021, die Verhandlungen mit der EU unilateral abzubrechen.

Verdeckte Ablehnung der Bilateralen III

Im Vorfeld der FDP-Delegiertenversammlung vom 18.10.25 lässt FDP-BR Keller-Sutter ihre Position zum Ständemehr über die NZZ den FDP-Delegierten mitteilen, in der Erwartung, die Delegierten würden ihr folgen und einer verdeckten Ablehnung der Bilateralen III zustimmen.

An der FDP-Versammlung selbst, der wichtigsten dieser Legislatur, ist sie nicht anwesend – aus welchen Gründen auch immer.

Mit ihr im Boot sind führende FDP-Mitglieder – wie FDP aBR Merz, FDP aBR Schneider-Amman, FDP aNR Leutenegger, FDP-SR Burkart, FDP-SR Wicki, FDP-NR Mühlemann, FDP-NR Wasserfallen und andere.

EU-Gegner ist nach wie vor FDP aNR Bonny, der zusammen mit FDP aNR Fischer und SVP aNR Blocher, am 06.12.1992 die knappe Ablehnung des EWR verursacht hat, und der jetzt wieder, wie SVP aBR Blocher, als Gegner der Bilateralen III auftritt.

Kompass-Initiative von Alfred Gantner

Aus der Wirtschaft gesellt sich seit langem der ehemalige UBS- und GoldmanSachs-Banker, Mormonen-Bischof und Oligarch Alfred Gantner aus Meggen an der Luzerner Goldküste zu den SVP/FDP EU-Gegnern. Am 29.08.2025, kurz vor der FDP-Delegiertenversammlung, reicht er der Bundeskanzlei seine Kompass-Volksinitiative für ein Ständemehr ein.

Er will Druck machen und stellt in Aussicht, die Initiative zurückzuziehen, wenn das Parlament dem Ständemehr zustimmt.

Mitträger sind u.a. aSkirennfahrer Russi, aTV-Journalist Aeschbacher, die Nebelspalter-Journalisten Somm und Güttinger, SVP-NR Büchel, SVP-NR Egger, SVP-NR Glarner, SVP-NR Gutjahr, SVP-NR Reimann, SVP-NR Riner, SVP-NR Thalmann, SVP-NR Tuena, zahlreiche SVP-Kantons- und Gemeindepolitikern sowie Manager aus der Finanzbranche.

Die von Gantner geforderten neuen Verfassungsartikel würden nicht nur die neuen Bilateralen III, sondern auch eine Weiterführung der bestehenden Bilateralen I und II verunmöglichen.

Unter den Journalisten der schweizer Medien sind die Verfechter des Ständemehrs ebenfalls gut vertreten. Wie Gantner und die SVP/FDP-Politiker der Anti-EU-Koalition hoffen sie, auf diesem Weg die Bilateralen III zu Fall zu bringen. Prominente Beispiele sind TA-Redaktor Rutishauser und TA-Journalist Somm.

FDP sagt Nein zum Ständemehr

Entgegen dem Beispiel von FDP-BR Keller-Suter und entgegen den vielfältigen Aktivitäten der EU-Gegner lehnen die FDP-Delegierten am 18.Oktober 2025 in Bern die Forderung nach einem Ständemehr für die Bilateralen III mit 232 zu 189 Stimmen ab.

Die Mehrheit der Delegierten zieht das demokratische Prinzip „One person, one vote“ und die Einhaltung der Rechtsgleichheit der Schweizerinnen und Schweizer beim Abstimmen auf Bundesebene einem unverhältnismässigen Schutz der politischen Interessenlage in den Kleinkantone vor. Was auch verfassungsgemäss ist.

Und: die Mehrheit der Delegierten realisiert, dass eine Zustimmung zum Ständemehr im Ergebnis eine Ablehnung der Bilateralen III bedeutet.

Die EU-Gegner in der FDP fühlen sich desavouiert und behaupten, der Delegiertenbeschluss widerspreche dem Volksempfinden der FDP-Basis. Und: die anti-europäische Koalition mit der SVP steuere wegen des Beschlusses auf einen Bruch zu.

Die EU-Gegnerschaft ist seit dem Eintritt von FDP aBR Merz und SVP aBR Blocher in den Bundesrat im Jahr 2003 und mit deren Nachfolger FDP aBR Schneider-Ammann, SVP aBR Maurer, SVP-BR Parmelin und FDP-BR Keller-Sutter das zentrale Bindeglied der anti-europäischen SVP/FDP-Regierungskoalition.

Die SVP macht ihre Zustimmung zur Wahl von FDP-Regierungsmitgliedern von deren Haltung in der Europafrage abhängig.

FDP-BR Cassis wechselt die Seiten

FDP-BR Cassis gehörte mindestens bis nach dem bundesrätlichen Verhandlungsabbruch vom 26. Mai 2021 zur Anti-Europa-Koalition.

Mit seinem Entscheid gegen das Ständemehr hat er seine Meinung geändert: er will nun die Bilateralen III realisieren. Der Grund für seine politische Wende ist nicht bekannt.

Er wurde von der SVP gewählt, weil er den Rechtsnationalen versprach, in der Europapolitik den Reset-Knopf zu drücken. Nach dem Abbruch der EU-Verhandlungen 2021 hatte er noch erklärt, ein Institutionelles Abkommen 2.0 mit der EU werde es nicht geben.

Mit den Bilateralen III gibt es nun mehrere Abkommen mit denselben institutionellen Regeln.

Zunahme des europäischen Rechts
Rückgang des nationalen Rechts

TA-Redaktor Rutishauser meint in seinem Artikel vom 18.10.25:

«Denn obwohl mit dem Ständemehr die meisten europapolitischen Weichenstellungen der letzten Jahre nicht möglich gewesen wären, leben wir seit Jahren mit den bilateralen Abkommen eins und zwei, und das nicht schlecht.

Es sind mit Ausnahme der Personenfreizügigkeit und den offenen Grenzen Handelsverträge, die die meisten Menschen nicht direkt betreffen. Und irgendwelche Weiterentwicklungen innerhalb der EU mussten bisher nicht übernommen werden.»

Diese Ansicht spiegelt Illusionen und ein Wunschdenken, das nicht den Fakten entspricht.

Das europäische Recht wird in allen europäischen Ländern immer wichtiger, unabhängig davon, ob die Länder Mitgliedstaaten der EU sind oder – wie die Schweiz - nicht.

Europäische Regeln gelten für das Reisen, für das Angebot von Konsumgütern, für das Produzieren von Gütern aller Art, für das Umweltrecht, für den Verkehr (Auto, Lastwagen, Bahn, Flugzeuge, Fahrräder), für das grenzüberschreitende Arbeiten, für Berufsdiplome aller Art und für viele andere Dinge des täglichen privaten und beruflichen Lebens.

Heute übernimmt der Bundesrat das europäische Recht in einem Gemischten Ausschuss von schweizer Beamten und EU-Beamten oder – ohne den Gemischten Ausschuss - direkt über die Bundesverwaltung. 90% davon kommen nie ins Parlament oder gar vors Volk.

Darum meinen viele – wie TA-Redaktor Rutishauser -, Schweizerinnen und Schweizer seien vom europäischen Recht kaum betroffen. Das ist ein Irrtum.

Keine Mitbestimmung der Schweiz
bei der europäischen Gesetzgebung

Der Unterschied zwischen EU-Mitgliedstaaten und Nicht-Mitgliedstaaten besteht nicht in der Rechtsübernahme, die für beide in weitem Umfange zur Anwendung kommt.

Die EU-Mitgliedstaaten und deren Regierungen und Parlamente sind an den Verfahren zum Erlass des europäischen Rechts im EU-Parlament, im EU-Rat, in der EU-Kommission und im EU-Gericht gleichberechtigt, demokratisch und rechtsstaatlich beteiligt.

Demgegenüber sind Nicht-Mitgliedstaaten – wie die Schweiz - nicht am Gesetzgebungsprozess für das europäische Recht beteiligt. Sie betreiben ausschliesslich Rechtsübernahme. Die Briten haben nach dem Brexit das Modell des schweizer Bilateralismus deswegen als „Vasallentum“ abgelehnt.

Die SVP/FDP-Koalition im Bundesrat lehnt für die Schweiz jede Beteiligung an der europäischen Gesetzgebung und an den europäischen Institutionen ab, obwohl Schweizerinnen und Schweizer immer mehr vom europäischen Recht betroffen sind. Die SVP/FDP-Koalition meint, diese Politik sei souverän, neutral und demokratisch.

Zukunft

Als Enklave der EU kann sich die Schweiz dem europäischen Recht immer weniger entziehen. Hinsichtlich der Rechtsübernahme nähert sie sich dem Status eines EU-Mitgliedstaates an.

Die aktuellen autoritären Figuren auf der Weltbühne, Trump, Xi Jinping und Putin tragen das ihrige dazu bei. Sie wollen sich von den globalen multilateralen Verträgen verabschieden und zur Grossmachtpolitik des 19. Jahrhunderts, definiert durch Verabsolutierung des Eigeninteresses, zurückkehren.

Globale multilaterale Verträge – wie WTO etc. - nützten bisher vor allem den Kleinstaaten, auch der Schweiz, als Schutz vor Grossmachtwillkür.

Mit ihrer neuen rücksichtslosen Politik setzen die USA, China und Russland Europa unter Druck, die Integration aussen-, sicherheits- und wirtschaftspolitisch zu beschleunigen und zu intensivieren. Kein europäisches Land kann, auf sich allein gestellt, der neuen Grossmachtpolitik widerstehen.

FDP-BR Keller-Sutter erfährt dies nach der masslosen Zollverfügung Trumps gegen die Schweiz selbst.

Ihre hektische Wallfahrt vom 6. August 2025, zusammen mit SVP-BR Parmelin, nach Washington, um die 39%-US-Zollverfügung vom 1. August 2025 doch noch aufzuheben, bleibt ohne jede Wirkung.

Obwohl Bundespräsidentin empfängt Trump sie nicht – entgegen dem diplomatischen Höflichkeits-Protokoll.

Er bleibt wegen ihres unglücklichen Telefons vom 31. Juli 2025 verärgert.

Zwecks beidseitiger Gesichtswahrung werden sie und SVP-BR Parmelin vom Trump-Gehilfen Rubio ergebnislos abgefertigt.

Rubio hat in der Zollfrage weder Kompetenzen noch relevante neue Erkenntnisse.

Dennoch bleibt FDP-BR Keller-Sutter – laut der NZZ-Offenbarung zur bundesrätlichen Abstimmung über das Ständemehr - mit der SVP und der Truppe Gantner anti-europäisch eingestellt. Kein Lernprozess ist im Gang.

Da sich die EU als Rechtsgemeinschaft und nicht als Zwangsgemeinschaft versteht, wird der europäische Rechtsbestand in neue Gebiete vorstossen.

Aufgrund der geografischen Lage und Grösse der Schweiz kann die schweizer Regierung, trotz ihrer gegenteiligen rechtsnationalen Rhetorik, dem nicht ausweichen und wird so oder so neues oder geändertes europäisches Recht übernehmen müssen.

Unter diesen Voraussetzungen ist die fehlende Beteiligung der Schweiz an der europäischen Rechtsetzung kein souveränes Zukunftsmodell, sondern eine undemokratische Zumutung.

20.10.25

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